Aktuell
In der Glaskugel
Ich liege im Bett und warte. Bin ich aufgewacht? Habe ich
überhaupt geschlafen? Ich habe sämtliches Zeitgefühl schon lange verloren. Es
könnte mitten in der Nacht sein oder früher Morgen. Vielleicht schon Zeit zum
Aufstehen? Ich weiß es nicht.
Ich kann mich nicht bewegen, kann nicht rufen, kann nicht
einmal die Augen öffnen; nur mit Mühe den Kopf um Millimeter vom Kissen heben.
Auf diese Weise kann ich eine sensible Schaltfläche betätigen, die unmittelbar
vor meiner Stirn hängt, und dadurch ein lautes Signal auslösen. Hilfe, ich brauche Hilfe.
Doch im Moment gibt es nichts, bei dem ein Mensch mir helfen
könnte. Ich liege und warte und bete. Mein Kopf wird von einer sehr stramm
sitzenden Beatmungsmaske wie umklammert; und damit auch durch den Mund keine wertvolle
Atemluft entweichen kann, hält ein breites elastisches Band unter dem Kinn den
Mund fest geschlossen. Bequem ist anders … doch es gibt keine Alternative, ich
muss es einfach ertragen, muss es aushalten.
Irgendwann beginnt der neue Tag, und eine Pflegekraft holt
mich aus dem Bett.
Am schlimmsten sind die ersten beiden Stunden des Tages für
mich. Im Bett liege ich (meist) bequem und warm, und nur nach dem Aufwachen macht die Atmung Probleme. Das "Aufstehen" bedeutet dann für mich
frieren, daraus resultierendes schmerzhaftes Zittern, mühsames Atmen, schnelle
Erschöpfung. Die Grundpflege, also Waschen und Anziehen, dauern insgesamt eine
gute Stunde - das ist nicht nur für die Pflegekraft anstrengend, sondern auch
für mich. Und dann muss ich frühstücken ... Essen und Trinken sind seit einiger
Zeit ebenfalls schwierig geworden: ich muss mich sehr konzentrieren beim
Schlucken, habe immer Angst vor einem Verschlucken. Zum Husten fehlen mir die
Luft und die Kraft. Deshalb sind meine Mahlzeiten langwierig und sehr still
geworden. Für gesellige Treffen ist das absolut nicht mehr geeignet - leider.
Ich bin immer froh, wenn alles reibungslos geschafft ist und
ich endlich für drei oder vier Stunden an meinem Schreibtisch sitze. Es ist für
mich die einzige Möglichkeit, noch irgendetwas selbstständig zu erledigen.
Das Leben als solches strengt mich kolossal an. Ich
versuche, dankbar für jeden neuen Tag zu sein, freue mich aber schon unendlich
auf die ewige Heimat bei meinem geliebten Herrn. Warum kann ich nicht einfach
bei IHM aufwachen … ohne den Ballast eines unbrauchbaren Körpers? Die
Beschäftigung mit vielen Bibeltexten, die sich mit Himmel und Ewigkeit
befassen, führt mir immer wieder deutlich vor Augen, dass das Leben auf dieser
Erde längst nicht alles ist! Dennoch muss jeder Tag und jede Stunde und jede
Minute hier mit einem kaum noch funktionierenden Körper durchlebt werden ...
Mein Alltag ist sehr herausfordernd geworden.
Mein Körper ist nach mehr als 16 Jahren ALS unübersehbar von
schwerer Krankheit gezeichnet. Viele normalerweise selbstverständliche
Funktionen sind zu einer unaufhörlichen Herausforderung geworden.
Atmen ist eine
unverhältnismäßige Anstrengung. Stellen Sie sich eine Person vor, die
untrainiert in einem großen Fußballstadion eine Platzrunde in scharfem Tempo
läuft. Am Ende der Runde ist sie ganz außer Atem, und jeder Atemzug ist schwer
und manchmal ein bisschen schmerzhaft. So ähnlich fühlt sich bei mir die
„normale“ Atmung an.
Sprechen ist eine
Strapaze. Wenn dieser Mensch aus unserem Beispiel dann sofort anschließend von
einem der Fußballtore aus seinem Kollegen im gegenüberliegenden Tor etwas
mitteilen will, muss er sich sehr abmühen, eine verständliche Äußerung in
ausreichender Lautstärke hervorzubringen. Ungefähr so beschwerlich ist das
Sprechen für mich.
Essen und Trinken
sind kein Genuss mehr, sondern eine tägliche, äußerst kräftezehrende und zeitraubende
Belastung. Kauen und Schlucken erfordern höchste Konzentration, denn die daran
beteiligten Muskeln sind größtenteils zurückgegangen.
Glücklicherweise kann ich dank modernster Computertechnik
berührungslos mithilfe leichter Kopfbewegungen weiterhin meinen Laptop steuern
und selbstständig Texte schreiben.
Das ist allerdings sehr mühevoll und kostet viel Zeit.
Die allgemeine Lähmung
des gesamten Körpers (mit Ausnahme der Nackenmuskulatur und Teilen des Rumpfes)
ist demgegenüber eigentlich nur lästig …
Dazu kommen noch ein paar Kleinigkeiten wie schmerzhafte
Druckstellen von der Atemmaske an den Ohren und im Gesicht, schwere Ödeme am
ganzen Körper und chronisch entzündete und tränende Augen. Dadurch kann ich
auch nicht mehr gut lesen; das empfinde ich als sehr große Beeinträchtigung.
Außerdem habe ich das Gefühl, als ob mir jemand täglich Juckpulver auf den Kopf
streut ... Auch bei sommerlichen Temperaturen friere ich ständig.
Glücklicherweise habe ich eine elektrische Heizdecke, die ich sogar im Sommer
regelmäßig benutze.
Mein Aktionsradius ist ebenfalls erheblich eingeschränkt,
weil es mir inzwischen sehr schwer fällt, meinen Elektrorollstuhl selbständig
zu steuern. Mit dem Auto kann ich seit fast drei Jahren nicht mehr unterwegs
sein, die körperliche Anstrengung selbst als passiver Beifahrer ist zu groß
geworden.
So bin ich fast immer zuhause anzutreffen. Folglich kenne
ich jede Fliese, jeden Fleck auf der Wand und jedes Gänseblümchen auf der Wiese
mit Namen... Sie denken vielleicht jetzt spontan: „Die arme Frau!“ Das geht mir
selber auch manchmal so … aber dann fällt mir ein, was mein Vater in Zeiten
schwerer Krankheit gesagt hat: „Gott weiß, wie viel ich tragen kann, mehr wird
er mir niemals geben“. Diese Aussage gilt mit Sicherheit auch für mich.

Meine Möglichkeiten sind nun
tatsächlich immer deutlicher eingeschränkt: "normale" Gespräche gibt
es für mich nicht mehr. Häufig fühle ich mich wie in einer Glaskugel gefangen:
ich sehe meine Umgebung und die lieben Menschen in meiner Nähe (durch die
entzündeten Augen) meist ein wenig verschwommen. Das Hören wird gestört durch
das ständige Zischen des Beatmungsgeräts und meine lauten Atemgeräusche. Wenn
ich mich äußern will, ist das mühevoll und oftmals unverständlich. Manchmal fühle
ich mich sehr allein in meiner Glaskugel.
Aber ich bin niemals allein – auch nicht in der scheinbaren
Isolation meiner „Glaskugel“! Mein Herr und Erlöser Jesus Christus ist bei mir.
Er leidet mit mir, er weint mit mir. Er versteht mich, er tröstet mich. Mit IHM
kann ich immer sprechen.
Alle Jahre wieder freue ich mich am Frühling … Wenn ich nach draußen sehe, dann bin ich
begeistert, wie eindrucksvoll unser allmächtiger Schöpfer jedes Jahr aufs Neue
bestätigt, dass aus dem scheinbaren Tod im Winter zuverlässig wieder neues
Leben erwacht! Ist das kein Grund zum Jubeln? Gerade wenn man sich als Christ
häufig mit Gedanken über die Ewigkeit befasst, ist es doch sehr tröstlich und
aufbauend zu wissen: das Beste kommt noch!! So wie der Frühling nach dem Winter
kommt, so wird auch die Herrlichkeit Gottes nach allen Schrecknissen dieser
Erde letztlich triumphieren. Welch eine wunderbare Gewissheit!
Manchmal sagt oder schreibt man mir, ich sei tapfer oder ein
Vorbild ... dann schäme ich mich immer und denke nur: die Leute
sollten mich mal sehen, wenn ich keine Lust mehr auf Kranksein habe, wenn ich
dann traurig irgendwo sitze und in meiner Fantasie wieder gesund bin! Ich bin
aus mir heraus gar nicht so stark, wie ich vielen erscheine. Ich kann nur
versuchen, mein Leben auszuhalten, weil ich weiß, dass die Liebe meines Herrn
Jesus mich festhält. Trotzdem strampele ich gewissermaßen manchmal in den Armen
des Guten Hirten...
Ich sehne mich so sehr nach Erleichterung, deshalb freue ich
mich auch so unbändig auf den Himmel. Aber ich habe mich schon oft gefragt, ob
das wirklich die richtige Motivation ist. Ich sollte mich eher auf den Himmel
freuen, weil ich dort endlich meinen wunderbaren Herrn und Heiland Jesus
Christus sehen darf - stattdessen will ich bloß gesund sein. Das ist meine
tägliche Herausforderung: dass ich Jesus (bei aller äußeren Geduld und allem
"fromm sein") nie aus dem Blick verliere! Er soll doch der Mittelpunkt sein, nicht ich und mein Wohlbefinden!
Deshalb kann ich mein Leben in der Glaskugel einfach in dem
Bewusstsein weiterleben, dass seine trostreiche Nähe in der Mühsal meines
Lebens schon ein kleiner Vorgeschmack auf seine göttliche Nähe in der Ewigkeit
ist.
Wenn ich ein Auto
wäre …
Der Apostel Paulus hat den menschlichen Körper bisweilen mit
einem Zelt oder einer Hütte verglichen. Ich stelle mir manchmal vor, ich wäre
ein altes Auto.

Wenn mein Körper ein Auto wäre, dann wäre es nicht mehr
verkehrstüchtig; zu viele Einzelteile sind inzwischen kaputt und nicht mehr zu
reparieren:
Die Reifen sind platt; mein Auto kann nur noch vorsichtig im
Schritttempo bewegt werden.
Die Karosserie ist verbeult; an vielen Stellen, vor allem am
Dach, ist der Lack abgeplatzt.
Die Fenster sind undicht, und einige Scheiben sind verdreckt
und fast blind.
Die Heizung funktioniert überhaupt nicht mehr, und die
Lüftung hat ständig Aussetzer.
Die Benzinleitung tropft und der Auspuff – na ja …
Der Tankdeckel klemmt und die Hupe ist ramponiert.
Der Motor allerdings läuft noch, und auch die Elektronik ist
noch tadellos in Ordnung!
Am allerbesten funktioniert das Navi: es ist auf das
Reiseziel programmiert und ist gänzlich unbeeindruckt vom desolaten Zustand des
Gefährts. Unbeirrt zeigt das Navi den richtigen Weg.
Und ich sitze in meinem Auto fest und wünsche mir, dass das
Ziel schon hinter der nächsten Wegbiegung liegt. Ab und zu rüttele ich
vorsichtig an den Türen, aber sie sind verschlossenen.
Doch ich weiß ganz genau: irgendwann kommt ER, der mich aus
diesem Totalschaden rettet, und dann bin ich endlich am Ziel meiner Reise und
bekomme ein wunderbar neues und voll funktionsfähiges Auto. Danach sehne ich
mich von Tag zu Tag mehr …
Ich liege gefangen und kann nicht heraus, mein
Auge sehnt sich aus dem Elend. HERR, ich rufe zu dir täglich. (Psalm 88,9-10)
Doch während ich noch unterwegs bin, versuche ich meine Zeit
weiterhin sinnvoll zu nutzen. Ich habe vor einer Weile wieder ein neues Manuskript
in Angriff genommen. Was soll ich auch sonst tun? Ich kann ja noch nicht einmal
auf dem Sofa sitzen und Däumchen drehen …
Und wenn mein „altes Auto“ zwischenzeitlich stillgelegt
wird, dann wird die Menschheit auch ohne dieses Buch klarkommen. Ich selbst
werde dann jedenfalls mit Sicherheit nichts vermissen!