
Irmgard Grunwald
Ich weiß, dass mein Erlöser lebt! Hiob 19,25
Aktuell
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In der Glaskugel
Ich liege im Bett und warte. Bin ich aufgewacht? Habe ich überhaupt geschlafen? Ich habe sämtliches Zeitgefühl schon lange verloren. Es könnte mitten in der Nacht sein oder früher Morgen. Vielleicht schon Zeit zum Aufstehen? Ich weiß es nicht.
Ich kann mich nicht bewegen, kann nicht rufen, kann nicht einmal die Augen öffnen; nur mit Mühe den Kopf um Millimeter vom Kissen heben. Auf diese Weise kann ich eine sensible Schaltfläche betätigen, die unmittelbar vor meiner Stirn hängt, und dadurch ein lautes Signal auslösen. Hilfe, ich brauche Hilfe.
Doch im Moment gibt es nichts, bei dem ein Mensch mir helfen könnte. Ich liege und warte und bete. Mein Kopf wird von einer sehr stramm sitzenden Beatmungsmaske wie umklammert; und damit auch durch den Mund keine wertvolle Atemluft entweichen kann, hält ein breites elastisches Band unter dem Kinn den Mund fest geschlossen. Bequem ist anders … doch es gibt keine Alternative, ich muss es einfach ertragen, muss es aushalten.
Irgendwann beginnt der neue Tag, und eine Pflegekraft holt mich aus dem Bett.
Am schlimmsten sind die ersten beiden Stunden des Tages für mich. Im Bett liege ich (meist) bequem und warm, und nur nach dem Aufwachen macht die Atmung Probleme. Das "Aufstehen" bedeutet dann für mich frieren, daraus resultierendes schmerzhaftes Zittern, mühsames Atmen, schnelle Erschöpfung. Die Grundpflege, also Waschen und Anziehen, dauern insgesamt eine gute Stunde - das ist nicht nur für die Pflegekraft anstrengend, sondern auch für mich. Und dann muss ich frühstücken ... Essen und Trinken sind seit einiger Zeit ebenfalls schwierig geworden: ich muss mich sehr konzentrieren beim Schlucken, habe immer Angst vor einem Verschlucken. Zum Husten fehlen mir die Luft und die Kraft. Deshalb sind meine Mahlzeiten langwierig und sehr still geworden. Für gesellige Treffen ist das absolut nicht mehr geeignet - leider.
Ich bin immer froh, wenn alles reibungslos geschafft ist und ich endlich für drei oder vier Stunden an meinem Schreibtisch sitze. Es ist für mich die einzige Möglichkeit, noch irgendetwas selbstständig zu erledigen.
Das Leben als solches strengt mich kolossal an. Ich versuche, dankbar für jeden neuen Tag zu sein, freue mich aber schon unendlich auf die ewige Heimat bei meinem geliebten Herrn. Warum kann ich nicht einfach bei IHM aufwachen … ohne den Ballast eines unbrauchbaren Körpers? Die Beschäftigung mit vielen Bibeltexten, die sich mit Himmel und Ewigkeit befassen, führt mir immer wieder deutlich vor Augen, dass das Leben auf dieser Erde längst nicht alles ist! Dennoch muss jeder Tag und jede Stunde und jede Minute hier mit einem kaum noch funktionierenden Körper durchlebt werden ... Mein Alltag ist sehr herausfordernd geworden.
Mein Körper ist nach mehr als 16 Jahren ALS unübersehbar von schwerer Krankheit gezeichnet. Viele normalerweise selbstverständliche Funktionen sind zu einer unaufhörlichen Herausforderung geworden.
Atmen ist eine unverhältnismäßige Anstrengung. Stellen Sie sich eine Person vor, die untrainiert in einem großen Fußballstadion eine Platzrunde in scharfem Tempo läuft. Am Ende der Runde ist sie ganz außer Atem, und jeder Atemzug ist schwer und manchmal ein bisschen schmerzhaft. So ähnlich fühlt sich bei mir die „normale“ Atmung an.
Sprechen ist eine Strapaze. Wenn dieser Mensch aus unserem Beispiel dann sofort anschließend von einem der Fußballtore aus seinem Kollegen im gegenüberliegenden Tor etwas mitteilen will, muss er sich sehr abmühen, eine verständliche Äußerung in ausreichender Lautstärke hervorzubringen. Ungefähr so beschwerlich ist das Sprechen für mich.
Essen und Trinken sind kein Genuss mehr, sondern eine tägliche, äußerst kräftezehrende und zeitraubende Belastung. Kauen und Schlucken erfordern höchste Konzentration, denn die daran beteiligten Muskeln sind größtenteils zurückgegangen.
Glücklicherweise kann ich dank modernster Computertechnik berührungslos mithilfe leichter Kopfbewegungen weiterhin meinen Laptop steuern und selbstständig Texte schreiben. Das ist allerdings sehr mühevoll und kostet viel Zeit.
Die allgemeine Lähmung des gesamten Körpers (mit Ausnahme der Nackenmuskulatur und Teilen des Rumpfes) ist demgegenüber eigentlich nur lästig …
Dazu kommen noch ein paar Kleinigkeiten wie schmerzhafte Druckstellen von der Atemmaske an den Ohren und im Gesicht, schwere Ödeme am ganzen Körper und chronisch entzündete und tränende Augen. Dadurch kann ich auch nicht mehr gut lesen; das empfinde ich als sehr große Beeinträchtigung. Außerdem habe ich das Gefühl, als ob mir jemand täglich Juckpulver auf den Kopf streut ... Auch bei sommerlichen Temperaturen friere ich ständig. Glücklicherweise habe ich eine elektrische Heizdecke, die ich sogar im Sommer regelmäßig benutze.
Mein Aktionsradius ist ebenfalls erheblich eingeschränkt, weil es mir inzwischen sehr schwer fällt, meinen Elektrorollstuhl selbständig zu steuern. Mit dem Auto kann ich seit fast drei Jahren nicht mehr unterwegs sein, die körperliche Anstrengung selbst als passiver Beifahrer ist zu groß geworden.
So bin ich fast immer zuhause anzutreffen. Folglich kenne ich jede Fliese, jeden Fleck auf der Wand und jedes Gänseblümchen auf der Wiese mit Namen... Sie denken vielleicht jetzt spontan: „Die arme Frau!“ Das geht mir selber auch manchmal so … aber dann fällt mir ein, was mein Vater in Zeiten schwerer Krankheit gesagt hat: „Gott weiß, wie viel ich tragen kann, mehr wird er mir niemals geben“. Diese Aussage gilt mit Sicherheit auch für mich.

Meine Möglichkeiten sind nun tatsächlich immer deutlicher eingeschränkt: "normale" Gespräche gibt es für mich nicht mehr. Häufig fühle ich mich wie in einer Glaskugel gefangen: ich sehe meine Umgebung und die lieben Menschen in meiner Nähe (durch die entzündeten Augen) meist ein wenig verschwommen. Das Hören wird gestört durch das ständige Zischen des Beatmungsgeräts und meine lauten Atemgeräusche. Wenn ich mich äußern will, ist das mühevoll und oftmals unverständlich. Manchmal fühle ich mich sehr allein in meiner Glaskugel.
Aber ich bin niemals allein – auch nicht in der scheinbaren Isolation meiner „Glaskugel“! Mein Herr und Erlöser Jesus Christus ist bei mir. Er leidet mit mir, er weint mit mir. Er versteht mich, er tröstet mich. Mit IHM kann ich immer sprechen.
Alle Jahre wieder freue ich mich am Frühling … Wenn ich nach draußen sehe, dann bin ich begeistert, wie eindrucksvoll unser allmächtiger Schöpfer jedes Jahr aufs
Neue bestätigt, dass aus dem scheinbaren Tod im Winter zuverlässig wieder neues Leben erwacht! Ist das kein Grund zum Jubeln? Gerade wenn man sich als Christ häufig mit Gedanken über die Ewigkeit befasst, ist es doch sehr tröstlich und aufbauend zu wissen: das Beste kommt noch!! So wie der Frühling nach dem Winter kommt, so wird auch die Herrlichkeit Gottes nach allen Schrecknissen dieser Erde letztlich triumphieren. Welch eine wunderbare Gewissheit!
Manchmal sagt oder schreibt man mir, ich sei tapfer oder ein Vorbild ... dann schäme ich mich immer und denke nur: die Leute sollten mich mal sehen, wenn ich keine Lust mehr auf Kranksein habe, wenn ich dann traurig irgendwo sitze und in meiner Fantasie wieder gesund bin! Ich bin aus mir heraus gar nicht so stark, wie ich vielen erscheine. Ich kann nur versuchen, mein Leben auszuhalten, weil ich weiß, dass die Liebe meines Herrn Jesus mich festhält. Trotzdem strampele ich gewissermaßen manchmal in den Armen des Guten Hirten...
Ich sehne mich so sehr nach Erleichterung, deshalb freue ich mich auch so unbändig auf den Himmel. Aber ich habe mich schon oft gefragt, ob das wirklich die richtige Motivation ist. Ich sollte mich eher auf den Himmel freuen, weil ich dort endlich meinen wunderbaren Herrn und Heiland Jesus Christus sehen darf - stattdessen will ich bloß gesund sein. Das ist meine tägliche Herausforderung: dass ich Jesus (bei aller äußeren Geduld und allem "fromm sein") nie aus dem Blick verliere! Er soll doch der Mittelpunkt sein, nicht ich und mein Wohlbefinden!
Deshalb kann ich mein Leben in der Glaskugel einfach in dem Bewusstsein weiterleben, dass seine trostreiche Nähe in der Mühsal meines Lebens schon ein kleiner Vorgeschmack auf seine göttliche Nähe in der Ewigkeit ist.
Wenn ich ein Auto wäre …
Der Apostel Paulus hat den menschlichen Körper bisweilen mit einem Zelt oder einer Hütte verglichen. Ich stelle mir manchmal vor, ich wäre ein altes Auto.
Wenn mein Körper ein Auto wäre, dann wäre es nicht mehr verkehrstüchtig; zu viele Einzelteile sind inzwischen kaputt und nicht mehr zu reparieren:
Die Reifen sind platt; mein Auto kann nur noch vorsichtig im Schritttempo bewegt werden.
Die Karosserie ist verbeult; an vielen Stellen, vor allem am Dach, ist der Lack abgeplatzt.
Die Fenster sind undicht, und einige Scheiben sind verdreckt und fast blind.
Die Heizung funktioniert überhaupt nicht mehr, und die Lüftung hat ständig Aussetzer.
Die Benzinleitung tropft und der Auspuff – na ja …
Der Tankdeckel klemmt und die Hupe ist ramponiert.
Der Motor allerdings läuft noch, und auch die Elektronik ist noch tadellos in Ordnung!
Am allerbesten funktioniert das Navi: es ist auf das Reiseziel programmiert und ist gänzlich unbeeindruckt vom desolaten Zustand des Gefährts. Unbeirrt zeigt das Navi den richtigen Weg.

Und ich sitze in meinem Auto fest und wünsche mir, dass das Ziel schon hinter der nächsten Wegbiegung liegt. Ab und zu rüttele ich vorsichtig an den Türen, aber sie sind verschlossenen.
Doch ich weiß ganz genau: irgendwann kommt ER, der mich aus diesem Totalschaden rettet, und dann bin ich endlich am Ziel meiner Reise und bekomme ein wunderbar neues und voll funktionsfähiges Auto. Danach sehne ich mich von Tag zu Tag mehr …
Ich liege gefangen und kann nicht heraus, mein Auge sehnt sich aus dem Elend. HERR, ich rufe zu dir täglich. (Psalm 88,9-10)
Doch während ich noch unterwegs bin, versuche ich meine Zeit weiterhin sinnvoll zu nutzen. Ich habe vor einer Weile wieder ein neues Manuskript in Angriff genommen. Was soll ich auch sonst tun? Ich kann ja noch nicht einmal auf dem Sofa sitzen und Däumchen drehen …
Und wenn mein „altes Auto“ zwischenzeitlich stillgelegt wird, dann wird die Menschheit auch ohne dieses Buch klarkommen. Ich selbst werde dann jedenfalls mit Sicherheit nichts vermissen!