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Leseproben

Zarte Pflanze Hoffnung

Die fiktiven Geschichten sind Ausschnitte aus dem Kaleidoskop des Lebens. Es geht um ungewollt Erlittenes, unbedacht Gewähltes, orientierungslos Verfahrenes. Menschen, die in der Vergangenheit gefangen sind, in der Gegenwart mit Leid konfrontiert werden und keine Fragen an die Zukunft mehr haben. Themen sind unter anderem Krankheit, Unfalltod, Beziehungen, Ehebruch, Abtreibung, Einsamkeit.

Die Stärke der Geschichten ist ihre Nähe zu einer Wirklichkeit, die jeder Mensch mehr oder weniger gut kennt, über die aber in der Öffentlichkeit nicht gesprochen wird. Das geht vom „Kavaliersdelikt“ des Seitensprungs bis zur „vernünftigen“ Abtreibung eines Kindes mit Trisomie 21. Die Erzählungen blicken tiefer, kratzen an Fassaden, gehen unter die Haut, decken menschliches Versagen und Unvermögen auf.

Dabei malen die Geschichten kein Happyend. Sie zeigen nur einen ersten, hoffnungsvollen Schritt auf einem Weg zur Veränderung.

(Aus dem Vorwort von Rolf Höneisen)

Die folgende Kurzgeschichte handelt von einer gelähmten Frau namens Christina. Sie ist pflegebedürftig und verbringt ihre Tage im Rollstuhl. Dabei hängt sie Tagträumen nach – ein Leben ohne Krankheit! – und pflegt Erinnerungen an früher, an ein aktives Leben ohne körperliche Einschränkungen.

Bruno

Bruno liegt vor ihrem Bett und schnarcht leise, den Kopf auf die Pfoten gelegt. Das hektische Piepsen des Weckers scheint ihn nicht im Geringsten zu stören. Chris stöhnt und wälzt sich aus dem Bett. Sie blinzelt aus dem Fenster: Ein makelloser Sommertag kündigt sich an. Doch um diese Uhrzeit hat Chris noch keinen Sinn für Sommer.

Wie jeden Morgen tappt Bruno hinter ihr her in die Küche und steht demonstrativ im Weg, lässt sie nicht aus den Augen, während Chris im Schlafanzug den Kaffee aufsetzt und den Tisch deckt. Er gibt erst Ruhe, als sein Futternapf gefüllt ist.

Sobald Chris die Terrassentür öffnet, kommt Rapunzel aus ihrem Lieblingsversteck unter der Tanne hervor. Die zierliche, rot getigerte Katze begrüßt Bruno mit einem kurzen Nasenstüber, inspiziert seinen mittlerweile leeren Napf und verdeutlicht ihren eigenen Anspruch auf Futter mit einem quietschenden Miau.

Der Kaffee duftet schon, und langsam wacht Chris auf. Mit einem leisen Lächeln betrachtet sie Bruno und Rapunzel. Bruno begibt sich in den Garten, majestätisch wie ein junger Prinz; Rapunzel hat sich schon auf dem Sofa zusammengerollt.

Chris nippt an ihrem heißen Kaffee und beginnt, ein paar Brote für ihren Mann zu richten. Schon seit einer Weile hört sie ihn im Badezimmer rumoren.

Kurz darauf erscheint Michael in der Küche. Er ist fertig angezogen und riecht frisch geduscht. Ein Kuss, eine kurze Umarmung.

- Gut geschlafen, Chris?

Eine halbe Stunde später macht sich Michael auf den Weg zur Arbeit.

- Ich wünsche dir einen schönen Tag.

- Ich freue mich auf heute Abend.

Chris nimmt den letzten Schluck Kaffee und beginnt ihre kleine Runde. Lüften, Betten machen. Schon genug Wäsche für eine Maschine?

Nach dem Duschen freut sich Chris auf den Sommer, in den sie nun mit Bruno eintauchen kann. Mit Hund und Fahrrad ist sie fast eine Stunde lang in Feld und Wald unterwegs.

Früher war ihr Morgen immer sehr viel hektischer verlaufen.

Frühstück für sieben Personen, die Großen mussten immer schon um zehn vor sieben aus dem Haus, um ihren Bus noch zu erreichen. Sie machte Kaffee, Kakao, Schulbrote. Immer mal durchzählen: Wer hat verschlafen und muss noch mal geweckt werden? Die jüngeren Kinder hatten auch morgens schon ein großes Mitteilungsbedürfnis. Trotz Müdigkeit antworten. Freundlich.

- Wo ist mein Malblock?

- Mein Turnbeutel ist weg!

- Mama, ich mag doch gar keinen Käse!

Dazwischen wuselten die Tiere, verlangten ihr Frühstück. Rapunzel war noch jung und fraß für drei. Flocke, die alte Hündin, lag nach dem Fressen immer im Flur, wo meistens jemand über sie stolperte.

Früher gab es alles nur in doppeltem Maßstab: Putzen, waschen, einkaufen, kochen. Eine völlig saubere Wohnung, eine Waschmaschine, ein Trockner ohne Wäsche? Niemals! Dafür aber Riesentöpfe mit Nudeln, große Schüsseln mit Salat, Frikadellen-Berge ...

Nachmittags Anteil nehmen an sportlichen und musikalischen Hobbys. Das Leben miteinander teilen. Ja, es war anstrengend gewesen, aber sie hatte es auch genossen.

*              *              *

Zögernd taucht Tina aus ihrem angenehmen Traum auf. Mühsam dreht sie den Kopf nach links zum Fenster. Durch einen Spalt in den Vorhängen sieht sie einen schmalen Streifen sommerblauen Himmel. Die Sonne dringt nicht hindurch.

Eigentlich möchte Tina am liebsten noch ein wenig liegen bleiben, allein sein, die Gedanken spazieren gehen lassen. Aber da ist wieder dieser Schmerz an den Fersen. Wenn man die gelähmten Beine wenigstens mal eine Kleinigkeit bewegen könnte ... Auch unter dem linken Oberarm spürt sie jetzt eine Druckstelle – wohl von einer kleinen Falte im Laken. Ergeben dreht sie das Gesicht nach rechts, wo der Druck ihres Kopfes eine Klingel auslöst.

Schon geht die Tür auf: die Pflegerin.

- Guten Morgen! Haben Sie gut geschlafen?

Eine freundliche Frage, doch Tina antwortet nicht. Sie kann nicht mehr sprechen. Durch ihre Krankheit sind viele Muskeln in ihrem Körper gelähmt, nicht nur Arme und Beine, Füße und Hände: Auch die Zunge funktioniert nicht mehr, und die Atemmuskulatur ist ebenfalls schon sehr schwach. Deshalb muss Tina auch fast ständig künstlich beatmet werden. Nur die Augen sind noch einwandfrei, und der Verstand ist hellwach.

- Ihr Mann ist schon zur Arbeit gegangen.

Das weiß ich doch, denkt Tina. Er hat sich schließlich schon vor einer halben Stunde, wie jeden Morgen, liebevoll von mir verabschiedet.

Ein ganz normaler Morgen. Die Pflegerin richtet Tina im Bett auf, hebt sie mit einer Art elektrischem Hebekran aus dem Bett, fährt sie mit dem Duschrollstuhl ins Badezimmer. Dort wird Tina gewaschen, anschließend angezogen. Tina blickt auf die Uhr. Wie lange das immer alles dauert!

- Was möchten Sie zum Frühstück essen?

Die Pflegerin zählt auf: Toastbrot, Schwarzbrot, Käse, Marmelade ... Dabei beobachtet sie Tina, die ihre Auswahl mit einem Blinzeln bestätigt. Milchkaffee mit einem Stück Zucker nimmt Tina immer. Mit einem Trinkhalm.

Früher hatte sie sich nicht wie eine Prinzessin bedienen lassen müssen. Sie war selbst ein Dienstleistungsunternehmen gewesen: Fa. Mama GmbH.

Das war immer ein buntes Treiben gewesen, morgens die Großen in die Schule schicken, die Kleinen für den Kindergarten fertigmachen. Schuhe anziehen, Jacken suchen, Kampf mit dem Reißverschluss, den Hund ruhig halten. Schließlich sind alle fertig, Hund an der Leine – ach ja, und die eigenen Schuhe auch noch anziehen.

Eines Tages hatte sie beschlossen, den Kindern das Schleife binden beizubringen. Drei Kinder – drei Charaktere. Kind eins schaut zu, lernt, übt, übt weiter, hat es schon bald geschafft! Kind zwei schaut zu, schaut wieder weg, probiert alles aus, verknotet sich die Fingerchen – Mama!! Kind drei schaut zu, schaut zu, schaut zu: Mach du, Mama.

Eine wirkliche Erleichterung für das morgendliche Fertigmachen zum Kindergarten war ihre Aktion nicht geworden. Aber irgendwann hatten sie alle das Schleife binden gelernt. Mit der Zeit waren sie alle groß, selbstständig, erwachsen geworden.

*               *               *

Bruno und Chris genießen den Sommer: Grüntöne in allen Variationen, bunte Tupfen überall, fast reifes Getreide, im Wald der Duft von Laub und Moos. Chris ist begeistert von Gottes wunderbarer Schöpfung, begeistert von Gott, dem Schöpfer. Als sie nach einer großen Runde wieder zu Hause sind, setzt sich Chris auf die Terrasse, um in aller Ruhe in ihrer Bibel zu lesen und mit ihrem Herrn und Gott zu sprechen.

Chris’ Herz fließt über von Dankbarkeit – es fließt in ihr Gebet. Sie dankt für ihren Mann, für den Sommer, für die Schöpfung, auch für Bruno.


Früher hatte sie nie so viel Zeit gehabt, in Ruhe in der Bibel zu lesen oder zu beten. Dennoch war sie sich der Nähe Gottes stets bewusst gewesen. Und gelesen hatte sie schon viel, wenn man es

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